Nur mit wirklicher Solidarität kann der Euro gerettet werden
Als Arzt, der ich 40 Jahre beruflich tätig war und eine Zeit großer Veränderungen in der Medizin miterlebt habe, weiß ich, was es bedeutet, wenn an die Stelle einer Idee pure wirtschaftliche Interessen rücken. Schließlich gewinnen ökonomische Überlegungen die Oberhand, während die beflügelnde Kraft der Idee, die dem Patienten gilt, ins Hintertreffen gerät. Das Ende eines solchen Prozesses ist die Materialisierung einer Idee, die Versteinerung innerer Kräfte, die lediglich, mit leblosen Konturen, im Stande ist, Vergangenes in Erinnerung zu bringen. Schlussendlich, die Idee wird zum Fossil. Es wäre schon geholfen, dächte man gelegentlich darüber nach, welche Idee die Medizin ursprünglich beflügelte.
Durchaus vergleichbar, wäre es hilfreich, über die Idee und deren Beweggründe nachzudenken, die Europa auf den Weg gebracht haben. Unverkennbar auch hier der Prozess der langsam fortschreitenden Materialisierung. Der Gedanke an Europa reduziert sich heute auf die Sorge um die Gemeinschaftswährung. Die ursprüngliche Idee einer europäischen Gemeinschaft, nach langen Zeiten hegemonialer Kleinstaaterei, gerät in den Strudel existenzbedrohender Finanz- und Wirtschaftsspekulationen. In den unzähligen, immer wieder stagnierenden Diskussionen, in denen die Krise analysiert und therapiert werden soll, werden die Argumente hilflos hin und hergeschoben; ein jeder will helfen, das Problem lösen, dabei aber selbst schadlos bleiben. Bei oberflächlicher Betrachtung geht es um den Euro. Mit jedem Schritt aber in die Tiefe der eigentlichen Probleme wird es immer unübersichtlicher und verworrener; man stößt auf Eindeutiges und Ungeklärtes, auf Verwegenes und Hinterhältiges, bis man schließlich erkennen muss, dass sich unter der fortwährend diskutierten Oberfläche arrodierende Kräfte verbergen. Wenn auch die öffentliche Meinung dominiert wird vom Gedanken an den Euro, geht es doch in Wahrheit um Vorteil und Gewinn, um Gier und um Macht und immer wieder um egoistische Zurückhaltung.
Aus dem Dickicht unübersichtlicher Zusammenhänge sollen einige Mosaiksteine in Erinnerung gebracht werden: 1. Oft wird die Meinung vertreten, dass sich Griechenland mit getürkten Zahlen in den Währungsverbund geschmuggelt habe. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es sich dabei nicht um kein einzelnes Vergehen handelte, bewiesen doch auch andere Staaten einen durchaus phantasievollen Umgang mit ihrem Datenwerk. Wichtig aber ist, dass dieses Geschäftsgebaren allen Beteiligten von Anfang an bekannt war. Schließlich war es Helmut Kohl, der auf der Mitgliedschaft Griechenlands in der Währungsunion bestanden hat. 2. Die Griechenlanddebatte gibt immer wieder Anlass, darauf hinzuweisen, dass es sich bei Griechenland um ein marodes Staatssystem handelt mit einem dazu noch völlig unkontrolliertem Steuerverhalten. Kaum einer wird überrascht sein angesichts derartiger Erkenntnisse, sind sie doch seit langer Zeit, schon lange vor dem Beginn der Einheitswährung, bekannt. Seit Anfang wusste man um die wirtschaftlichen Probleme Griechenlands. Mit dem Euro wurde den Griechen eine wirtschaftliche Potenz vorgegaukelt, die sie nicht hatten und sie aus eigener Kraft auch nicht gewährleisten konnten. 4. Mit den Maastricht-Kriterien wurden lockere Zügel angelegt, keineswegs aber tragfähige wirtschaftliche Regeln geschaffen, die dem so unterschiedlichen Wirtschaftspotential der beteiligten Länder gerecht werden konnten. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass es Gerhard Schröder war, der als erster die Maastricht-Kriterien verletzt hat. 5. Bekannt sind die undurchsichtigen Machenschaften der Hedgefonds u.a., die in gewinnbringender Absicht Wetten auf schwächelnde Währungen abschließen und damit ihren Zerfall noch beschleunigen. Man wird den Eindruck nicht los, dass die Politik der unkontrollierten Finanz-Zockerei inzwischen hilflos gegenübersteht.
In summa: Von Anfang an wurden von allen Seiten Fehler gemacht, es wurde Wissen verharmlost bzw. keineswegs uneigennützig negiert. Die am Anfang stehende Idee wurde weder geschützt noch mit den erforderlichen Regularien ausgestattet. Aus der europäischen Idee erwuchs die gutgemeinte Vorstellung, den Staatenverbund durch eine gemeinsame Währung zu festigen. Man unterließ es, der Währungspolitik eine stabilisierende Wirtschaftspolitik zur Seite zu stellen. Die anfängliche Euphorie verführte dazu, die Dinge treiben zu lassen und den sich immer deutlicher abzeichnenden Entwicklungen keine gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Die Ideen- und Perspektivlosigkeit der Politik ist ein deutlicher Hinweis, dass die „Kunst“ des Verwaltens die Kraft der Idee und den visionären Gestaltungswillen verdrängt hat. Es ist das Resultat einer Politik, die lediglich auf Sicht fährt und erst dann die Notwendigkeit des Handelns erkennt, wenn Probleme unübersehbar ins Haus stehen. Man baute auf selbstregulierende Kräfte und überließ die anfängliche Währungseuphorie ihrem Schicksal. Aus der Finanzkrise 2008 hat man versäumt Konsequenzen zu ziehen, das undurchsichtige, spekulative Finanzgebaren ist weiterhin außer Kontrolle. (Wenn Banken jährlich von Gewinnen in Milliardenhöhe berichten; wer fragt sich schon: woher und auf wessen Kosten?) Es sind Banken, die sich bei der EZB Geld zum Billigtarif beschaffen und damit hoch verzinste Papiere von gefährdeten Staaten kaufen. Die großen Geldmengen, die nach Griechenland flossen, kamen nicht nur Griechenland sondern auch den Banken zugute. Es ist kein Geheimnis, dass nicht nur Deutschland an der Krise profitiert.
Lange, zu lange zögerte die Politik, zu lange zögerte die Bundeskanzlerin. Die Zeit, die notwendig gewesen wäre, die erforderlichen Strukturreformen auf den Weg zu bringen, verstrich tatenlos. Das Gespenst der Krise erhob sich über dem Horizont und sie entwickelte schließlich ihre Eigendynamik. Nun aber ist es offensichtlich, dass alleiniges Sparen zu keiner Lösung mehr führen kann. Zu weit fortgeschritten ist der finanzielle Zerfall, für strukturelle Veränderungen ist keine Zeit mehr. Mit Nachdruck und mit penetranter Heftigkeit vertritt die Bundeskanzlerin die Devise vom rigiden Sparen; mit dieser Meinung versucht sie Brüssel zu dominieren. Inzwischen nimmt man den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion in Kauf ebenso wie die Folgen, die in ganz Europa dadurch entstehen können. Das Sparen als Therapie ist einer verordneten Nulldiät bei einem Verhungernden vergleichbar. Von Solidarität zu sprechen, wie es die Bundeskanzlerin heute im Bundestag tat, kann nur als Hohn empfunden werden. Zu durchsichtig ist die nachhaltig vorgebrachte These vom Sparen. Im Konsens mit den Wirtschaftslobbyisten und im Konsens mit 80% der Bundesbürger versucht sie Deutschland gegenüber einer europäischen Gesamtverantwortung abzuschotten. Die Bürger sind nicht bereit, mit Steuergeldern ein marodes Staatssystem zu retten; sie vergessen dabei die politischen Versäumnisse der vergangenen Jahre, sie sind darüber hinaus dabei, den europäischen Gedanken hintanzustellen und sie verlieren die Tragödie aus dem Auge, in die der griechische Bürger mit Mitverschulden der Europäer geraten ist. Inwieweit sich die griechische Bevölkerung der Möglichkeit ihrer politischen Einflussnahme bei der bevorstehenden Wahl bewusst ist, bleibt abzuwarten.
Warum soll Griechenland allein die Suppe auslöffeln, die eine Gruppe von „zwölf“-Sterne Köchen versalzen hat? Hat die europäische Idee noch Bestand? Wer glaubt, es ginge nur um ein Währungsproblem, der vergisst, dass die vielschichtigen Finanz- und Wirtschaftsprobleme die anfängliche Idee bereits in den Hintergrund haben treten lassen; der Materialisierungsprozess ist in vollem Gang. Die europäische Idee erfordert die Bereitschaft zu einer Verantwortung, die über die Interessen des eigenen Staates hinaus reicht. Eigene Interessen haben das Ganze zu beleben und nicht zu schwächen! Einer für alle, alle für einen; anders kann eine Gemeinschaft nicht funktionieren und nur gemeinsam kann sie stark sein. Hilfreich kann demzufolge nur die Bereitschaft zur tätigen Solidarität sein! Was ist das für eine sonderbare Solidarität, nach der eine Vergesellschaftung der Schulden durch die Etablierung von Eurobonds von Deutschland vehement abgelehnt wird? Private Interessen schwächen den Willen zur gemeinsamen Verantwortung. Natürlich können Eurobonds nicht das einzige Mittel sein, obgleich schon dieser Schritt den Zusammenhalt der Gemeinschaft glaubwürdiger machte. Flankierend muss das geschehen, was die Kanzlerin nachdrücklich einfordert, nämlich zu sparen. Ein Aspekt des Sparens sind durchgreifende Strukturreformen, eine stringente Schuldenpolitik ein durchsichtiges Vorgehen bei der Besteuerung und nachvollziehbare, europaweit gültige und verbindliche Wirtschaftsrichtlinien. Nur in diesem Dreierpack kann Europa und der Euro gerettet werden. Jede isolierte Maßnahme ist zum Scheitern verurteilt und leistet dem Prozess der Materialisierung weiterhin Vorschub.
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