Ein Söldner kehrt nach 20 Jahren aus einem Kriegsgebiet nach Hause zurück. Von am Straßenrand stehenden Passanten wird er bedauert: „Alles verloren!“, der Eine, „alles umsonst?“, ein Anderer. „Nein“, sagte er. „Wir haben nicht nur mit Waffen gekämpft; wir haben Samen gesät und wir hoffen, dass er irgendwann Früchte trägt. Wir haben Ideen ins Land getragen; haben wir Geduld!“
Der anfängliche Grund für den Afghanistan-Einsatz war die Bekämpfung des Terrors. Mit der Liquidierung von Osama bin Laden war dies augenscheinlich erreicht. Die Kämpfe gingen weiter, ohne zunächst ein eigentliches Ziel zu definieren. Über Jahrhunderte hatte sich Afghanistan gegen Gebietsansprüche von außen zu erwehren bis sich immer mehr der Konflikt zwischen den islamistischen Taliban und einer weltlich orientierten Regierung in Kabul konkret wurde. Die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen führten innerhalb von Afghanistan zur Bildung regionaler Machtzentren (Stammesfürsten, Warlords), die zu einer Partikularisierung gesamtstaatlicher politischer Zielsetzungen beitrug. Zuletzt waren es Ahmad Schah Massoud und Abdul Raschid Dostem, denen es, im Rahmen einer nationalen Einheitsfront trotz einer massiven Unterstützung der Taliban durch pakistanisches Militär gelang, sich gegen die Taliban zu behaupten. Ahmed Massoud wurde zum Nationalhelden Afghanistans erklärt. (Er war es im übrigen auch, der in einer Rede vor dem europäischen Parlament den Westen vor einem bevorstehenden Anschlag warnte).2001 wurde er von Anhängern der Al Qaida ermordet.
Im Dezember 2001 wurde im Petersberger Abkommen (Bonn) vereinbart, dass die Demo-kratisierung von Afghanistan Ziel der Intervention des Westens sei. Hamid Karzai wurde zum Anführer einer provisorischen Regierung ernannt. Neben dieser politischen Zielsetzung, die nur mit militärischen Mitteln zu erreichen war, ging es immer auch um den humanitären Aspekt, um den Schutz der Bevölkerung, vor allem der Frauen und Kinder gegenüber einem menschenverachtenden, islamistisch geprägten Fanatismus (Scharia). Die islamistische Ideologie der Taliban, ursprünglich ausgehend von religiösen Schulen in Pakistan, handelte stets mit der klaren Absicht, einen Gottesstaat in Afghanistan zu errichten (Kalifat). Ihre Methode war es, Angst zu verbreiten, die Menschen in Unruhe zu versetzen; sie erreichten das mit Anschlägen und Selbstmordattentaten, denen immer wieder zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen. Vor allem Frauen und Mädchen hatten darunter zu leiden, waren sie doch aller Freiheiten und Möglichkeiten beraubt, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. In den vergangenen 20 Jahren, in denen es der westlichen Militärgemeinschaft gelang, die Taliban-krieger weitgehend zu kontrollieren und für eine zunehmende Normalisierung des gesell-schaftlichen Lebens zu sorgen, (in Schule, Ausbildung und Beruf) war ein großes Bedürfnis nach einem Fortgang dieser Normalisierung zu spüren.
Nach dem unerwartet plötzlichen Abzug des westlichen Militärs und der überfallsartigen Machtübernahme durch die Taliban, ist eine Psychologie entstanden, die man hätte durchaus vorhersehen können. Lange Zeit wurden die Männer zur Verteidigung gegen die Taliban ausgebildet. Es sind aber besonders die Frauen und Kinder, die unter einer Taliban-herrschaft zu leiden hatten und haben. Es kommt hinzu, dass die in Ausbildung stehenden Soldaten schlecht bezahlt wurden und damit eine wichtige Motivation für ihre Kampf-bereitschaft fehlte. Auch die historisch gewachsene Mentalität der dort lebenden Menschen wurde falsch eingeschätzt, nachdem es Verbindungen, verschwiegene Beziehungen und gar Verbrüderungen zwischen den jeweiligen Machtstrukturen bis hin zu den Taliban gab, die eine klare Zuordnung zu Freund und Feind kaum möglich machten. Angesichts einer plötzlich auftauchenden Flinte eines Talibankämpfers, war es dann auch leichter, sich zu ergeben, als sein eigenes Leben zu riskieren zumal Männer kaum etwas von einer Machtübernahme durch die Taliban zu befürchten hatten. Es gab demnach zwei Aspekte, die in unter-schiedlicher Weise die Grundlage der Bewertung der westlichen Intervention in Afghanistan bildeten: der militärische und der humanitäre Aspekt. Aus militärischer Sicht war die Argumentation durchaus verständlich, den schon 20 Jahre andauernden Krieg endlich zu beenden. 59 deutsche Soldaten waren gefallen, eine Vielzahl verletzt und traumatisiert. Auch die hohen Kosten wurden ins Gespräch gebracht – auch das ein Argument. Wenn dann noch Putin der deutschen Kanzlerin zu verstehen gibt, dass man einem Volk nicht mit Gewalt eine Staats- und Gesellschaftsform aufoktroyieren kann, dann klingt das plausibel (jedoch nicht aus diesem Munde) und mancher wird sagen, dass er Recht hat, er, der nicht die Demokratie, vielmehr autoritäre Strukturen favorisiert. Im Eifer der blind übernommenen Argumentation folgt mancher dem Standpunkt, der Krieg müsse schnell beendet werden. Auch Trump hatte sich ja diese Argumentation zu eigen gemacht.
Warum nur sind wir so bedrückt und entsetzt angesichts der Bilder aus Kabul? Gewiss nicht nur wegen der unverzeihlichen Fehler, die wir zurecht der Regierung anlasten. Es ist die plötzliche Einsicht, dass der zweite Aspekt, der humanitäre Aspekt bei der Entscheidung über das Ende der Afghanistan-Mission unberücksichtigt blieb. Jeder wusste, was passieren würde, doch an die Menschen dort haben wir nicht gedacht. Der humanitäre Aspekt duldet nicht die Feststellung, 20 Jahre seien zu viel! Wer will den Freibrief für das jetzt entstehende Leid aufwiegen gegen den Aufwand und die Mühen, die erforderlich sind, einem Volk Zeit zu verschaffen, sich zu organisieren, sich zu festigen und belastbare Strukturen zu schaffen, Zeit, die notwendig ist, um eine Idee, die gerade begann, Wurzeln zu schlagen, reifen zu lassen. Die afghanische Bevölkerung war noch nicht so weit, die Verantwortung für stabile und geschützte gesellschaftliche Verhältnisse zu übernehmen. So gesehen war der übereilte Abzug der westlichen Truppen ein Fehler. Ein Zeitgewinn unter militärischem Schutz hätte dem demokratischen und nicht weniger dem kulturellen Prozess weitere Möglichkeiten verschafft.
Zu diesem Fehler des kopflosen Abzugs der Streitkräfte addiert sich der Fehler der Falscheinschätzung des afghanischen Verteidigungspotentials. Nun aber geht es um die Anatomie des dritten Fehlers, der im Wesentlichen das Desaster am Kabuler Flughafen mit versursacht hat. Joe Biden, der Präsident der Vereinigten Staaten legt den Termin für den endgültigen Abzug seiner Truppen aus Afghanistan fest: 11. September 2021. Nichts ist dagegen einzuwenden, dass die deutsche Bundesregierung den Abzug ihrer Truppen aus gleichsam vorauseilendem Gehorsam zeitlich vorverlegt. Aber! 20 Jahre haben die deutschen Soldaten mit Ortskräften vor Ort zusammengearbeitet. Nach einem Abzug müssen nun diese Menschen um ihr Leben bangen; das ist bekannt. Nach einem Wort von Saint-Exupéry: „Man ist verantwortlich für das, was man sich vertraut gemacht hat“, ist es also eine Frage der Verantwortung! Die Truppen kehren nach Hause zurück (ganz nebenbei: ohne von der Verteidigungsministerin in Empfang genommen zu werden). Der Kapitän (damit meine ich das Militär) geht von Bord; die Mannschaft des Unterdecks bleibt zurück. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Übernahme der Ortskräfte zu organisieren, solange die mobilen Strukturen des Militärs vor Ort noch funktionstüchtig waren. Nein, nach Rückkehr der Soldaten diskutiert man Wochen lang, wie die Übernahme der Ortskräfte zu bewerkstelligen sei und zeigt sich von den plötzlich veränderten Gegebenheiten überrascht. Die Diagnose: „Falscheinschätzung“ ist falsch! Die Diagnose muss lauten: „Unterlassene Hilfeleistung“, „Verantwortungslosigkeit“ und „humanitäres und politisches Versagen!“ Es stellen sich Fragen an die Regierungsfähigkeit der deutschen Regierung. Der Wahlkampf entlarvt manch charakterliche Schwächen der um Wahlstimmen eifernden Politiker: Punkte sammeln: Bloß nichts Falsches sagen und noch weniger Falsches oder Missverständliches Tun. Nicht auffallen. Am besten, in Naturkatastrophen wehrhaft in Rohrstiefeln Stärke und Mitgefühl zeigen ansonsten alles vermeiden, was falsch verstanden werden könnte. Viel reden von Rechten und Ansprüchen, nicht aber von Pflichten! Argumente gegen einen Krieg wirken immer. Opferbereitschaft einfordern für einen guten Zweck könnte missverstanden werden – ist zumindest zweischneidig. Die Politiker emigrieren in einen Egoismus der geschönten Selbstdarstellung ohne die Bereitschaft, die Egge in die Hand zu nehmen, um den Acker zu furchen. Es ist das laute Schweigen, die Sprachlosigkeit der scheinbar Gerechtfertigten. Wir haben uns beirren lassen; wir haben versagt, wir haben Schuld auf uns geladen.
Für die weitere Entwicklung in Afghanistan gibt es mehrere Möglichkeiten: Nach einem erfolglosen Einsatz der Russen, nach 20 Jahren erfolgloser Intervention durch den Westen, ist nicht ausgeschlossen, dass ein Bürgerkrieg in Afghanistan entsteht, der stabile Verhält-nisse in Afghanistan entstehen lässt. Auch in einem solchen Fall wird es notwendig sein, humanitäre Hilfe zu leisten. Wir müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Es geht nicht darum, einem Volk unser Verständnis von Freiheit aufzudrängen; es geht ausschließlich darum, anderen Menschen, die in Not sind, zur Seite zu stehen. Wir müssen bereit sein, aus Fehlern zu lernen!
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