Die Menschen im westlichen Deutschland blicken mit Befremden und mancher Verwunderung auf die östlichen Bundesländer, besonders jetzt angesichts der bevorstehenden Wahlen in drei dieser Länder. Wie ist die große Verbundenheit mit Russland zu erklären, wie der offen ausgesprochene Frust gegenüber allem, was Politik bedeutet, wie die Favorisierung der rechts extremen Parteien, die aus ihrer Feindseligkeit gegenüber Europa und Amerika keinen Hehl machen. Diese im Raum stehenden Fragen lösen zunächst Unverständnis aus mit immer neuen Versuchen, das unerklärbare Phänomen des „Ostdeutschen“ analytisch zu erfassen. Es ist, als ob es um Menschen mit einer Identität ginge, die mit dem gefühlten Deutsch-Sein des Westdeutschen nicht übereinstimmt, eine ganz andere Art von „deutsch“ eben.

In der nun schon langen Zeit der Zusammengehörigkeit hat der Ostbürger die Produkte der Freiheit während der langen Nachkriegszeit im Westen längst studiert und sich zu eigen gemacht, eine Lebensform, auf die er so lange verzichten musste. Der Westdeutsche hingegen hatte reichlich Gelegenheit, die landschaftlichen und städtebaulichen Schönheiten des Ostens kennen zu lernen. Aus der Verschiedenheit der Menschen ist jedoch trotz Vereinigung noch keine gesellschaftliche Einheit erwachsen. Und schon sind wir bei dem Versuch einer Analyse, bei dem Versuch, zu verstehen, warum das so ist. Man wird zu dem Ergebnis kommen müssen, dass beide Seiten, der Westbürger wie auch der Ostbürger, den Prozess der Wiedervereinigung ganz verschieden verinnerlicht haben. Der Ostbürger hat zwar die Freiheit gewonnen, aber er hat seine Identität verloren: er wurde zum Fremden im eigenen Land. Er ging als der Verlierer aus dem anfänglichen Freudenfeuer der gewonnenen Freiheit hervor. Über Nacht lösten sich alle sozialen Strukturen, wirtschaftliche Traditionen fielen in sich zusammen, die entstandenen Leerräume wurden von westlicher Dominanz gefüllt. Der Westbürger hingegen sah sich ad-hoc, mit ungeahnten Möglichkeiten konfrontiert, die vielen Nischen des sich plötzlich auftuenden Neulandes seinem Kapital zugänglich zu machen und blühende Landschaften entstehen zu lassen. Der Westbürger war der Gewinner; er blickte mit einiger Genugtuung herab auf den immensen Nachholbedarf auf dem Gebiet wirtschaftlicher Stringenz. Im Denken vollzog sich die Andersartigkeit zwischen Ost und West. Noch im vergangenen Jahr wurden die Renten unterschiedlich bemessen; noch lag die Rente im Osten unter dem Niveau des Westens. Mag mancher das für nebensächlich halten, immerhin ist es bemerkenswert, dass die Politik, insbesondere die Bundesregierung, trotz allen Wissens über die gesellschaftliche Entwicklung im Osten nichts unternimmt, diesem Trend der bestehenden Divergenzen entgegenzuwirken.

Es muss den Politikern doch bewusst sein, dass sich der Ostbürger als ein Bürger zweiter Klasse empfindet, dass er sich nicht als gleichwertig anerkannt fühlt. Aus der gefühlten Schwäche entsteht das Bedürfnis nach Stärke; man will Anerkennung, man will verstanden werden, man will eingängige, nachvollziehbare Lösungen. Man will Veränderungen, die eine neue gesellschaftliche Werteordnung in Aussicht stellen. Beim Ostbürger verband sich mit der Freiheit auch das Gefühl der Verlorenheit, eben Sicherheiten verloren zu haben. So ist der Ostbürger viel empfänglicher gegenüber populistischen Versprechen, gegenüber starken Worten; Dass starke Worte immer auch Verführungspotential haben, ist hinter der Großartigkeit des Tatversprechens nicht sogleich erkennbar. Die Unterschiedlichkeit der Biographien zwischen West und Ost darf nicht unberücksichtigt bleiben.

Der Westbürger lebte stets im Bewusstsein gegen die dunkle Macht der Russen. Der Ostbürger musste es schaffen, in seinem Bewusstsein, bei gleichzeitiger Anwesenheit der Russen, gegen die Russen zu sein. Denn auch dem Ostbürger blieben die Machenschaften der Russen nicht verborgen. Diese Differenziertheit war nicht Teil des Alltags, wo Bekanntschaften und Freundschaften und damit unauslöschbare Bilder entstanden. Es ist ein altes Wissen, nachdem sich das Herz entscheidet, während der Kopf die Argumente liefert. Die Eindeutigkeit, mit der der Westbürger den Russen in seiner kaltschnäuzigen Unberechenbarkeit und seiner unheilvollen Drohgebärde erlebt hat, war nicht Teil der Erlebnissphäre des Ostbürgers, im Gegenteil. Die Eindrücke, die bei der Invasion des Westens in die Lebensbereiche des Ostens entstanden, waren nicht weniger irritierend. Die Freiheit, die der Westbürger zu leben gelernt hat, überfiel den Ostbürger unvorbereitet und ließ Verlustängste entstehen. Das Bild, das sich der Ostbürger vom Westen macht, ist ein anderes, als das, was der Westen von sich hat. Diese Divergenz des Fühlens und Erlebens blieb bis heute unverändert bestehen. Die Politik aber blieb bis heute untätig, wobei jedem klar sein muss, dass es nicht die blühenden Gärten sein können, nicht das Geld, das zur Instandsetzung und Renovierung der Städte aufgewandt wird, Das WirGefühl, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, entsteht allein im Gespräch, in der Aufmerksamkeit, in der Wahrnehmung, in der Zuwendung, im erkennbaren Bemühen. Dass alles so ist, wie es ist, ist Folge eines großen Politikversagens der letzten Jahre und Jahrzehnte. Wie häufig war Bundeskanzler Scholz im Osten unterwegs, aus Neigung, nicht der Pflicht gehorchend?

Bilder und Zeichen sind im menschlichen Leben und eben auch in der Politik so wichtig, im positiven wie im negativen Sinn. Denken wir an die Rede von Winston Churchill an sein Volk, denken wir an Willy Brandt in Warschau, denken wir an die Erstürmung des Capitols an jenem 6. Januar, denken wir an die zahllosen Panzer, aufgereiht entlang der Grenze zur Ukraine. Es sind alles Bilder mit großer Bedeutung, wie Wegmarkierungen der Geschichte; es sind Wahrnehmungen, bleibend, in Stein gemeißelt. Welche Bilder lässt unsere Regierung entstehen? Es sind Bilder der Unentschlossenheit, der Uneindeutigkeit, Bilder, die den Eindruck vermitteln, dass bestehende Probleme gar nicht wahrgenommen werden, dass sie als lästig empfunden werden. Sarah Wagenknecht etwa zeigt, wie es gehen könnte, nicht inhaltlich freilich, denn als alte Kommunistin geht sie mit Putin konform in der Absicht einer herbeizuführenden Systemänderung; es geht vielmehr um das Spiel mit den Bildern. Sie ist dabei selbst das Bild, das sie vermitteln möchte, mit voller Aufmerksamkeit und großem Bemühen, mit Eloquenz und geschliffener Rhetorik, nimmt sie mit Elan und überzeugender Geste Anteil an den Sorgen der Menschen und wie ein Wissender übernimmt sie die Rolle des Führens mit verführerischer Sicherheit und dem Anspruch politischer Durchdachtheit. Schon morgens, vor dem Spiegel im Bad ist sie bemüht um die Adrettheit ihres Äußeren und mit makelloser Frisur und mit der ganzen Entschiedenheit ihres Daseins bringt sie sich in Stellung: sie ist nicht rechts, nicht links, aber ist für alle Probleme die Lösung. Die Menschen fühlen sich angesprochen, fühlen sich verstanden, doch kaum einer durschaut die Konsequenzen, nur Wenige erkennen, dass ein Selbstbildnis, eine vereinfachte, geglättete Welt in Szene gesetzt wird.

Das Bild der Regierung ist weniger scharf. Jeder, der mit Farben umzugehen gelernt hat, weiß, dass man mit Schwarz und Weiß die schärfsten Konturen zuwege bringt, weiß, dass Farben die Aussage eines Bildes schnell verändern können. Im Zusammenspiel der Farben verändert sich oft das Wesen und die spezifische Bedeutung der einzelnen Farbe. Je mehr Farben, desto schwieriger scheint es, Markantes und Nachhaltiges thematisch umzusetzen und erkennbare Konturen zu vermitteln. Denkt man an die SPD, dann erscheint es geradezu unmöglich unter den aktuellen Gegebenheiten das historische Gewicht dieser Partei in bleibende Bilder einzufangen. Könnte es die philosophische Studierstube des Fraktionsvorsitzenden sein, oder das von jedem Ernst befreite Lächeln des Kanzlers? Die SPD muss aufpassen, dass sie nicht in der Bedeutungskrise einer allgemeinen Bilderlosigkeit das Schicksal ereilt, überhaupt nicht mehr wahrgenommen zu werden. Die FDP ist nicht weniger gefährdet, auch wenn sie versucht, den Mangel an Bildern dadurch zu kompensieren, dass sie mit Nachdruck ihr ideologisches Gedankengut in Stein meißelt. Wie auch immer; die Kunst in der Politik ist gefährdet und in der Tat beginnen einige Politiker, die Lösung der Probleme in einer Koalition mit dem BSW zu sehen.

Der Geist der Wiedervereinigung sollte uns erneut beflügeln, in einem Augenblick, in dem die demokratische Grundordnung in unserem Land wie in ganz Europa gefährdet ist. Jeder von uns sollte dazu einen Beitrag leisten. Entscheidend ist jedoch nicht zuletzt, dass von der Regierung eindeutigere Signale ausgehen, Signale und Bilder, die den Willen zur Einheit erkennen lassen, fürsorglich, einfühlend und verständnisvoll. Selten sind Chancen wiederholbar. Noch haben wir die Möglichkeit.