Ich beginne mit einem durchaus denkbaren Szenarium: Die Ukraine geht verloren; sie wird russifiziert. Putin hat erreicht, was er sich vorgenommen hat und das mit der Hilfe des Westens. Unser von Angst getriebener Kanzler wird sich als besonnener Friedensfürst feiern lassen, denn ohne ihn wäre der erreichte Frieden undenkbar. Der Kanzler wird zur Absicherung dieses Erfolges sagen können, er habe alles versucht. Kein Land der Erde hat die Ukraine mehr unterstützt als Deutschland, humanitär, finanziell, militärisch. Er wird sich – vom Erfolg geblendet – nicht fragen, ob die Hilfe ausreichend war, ob er hätte mehr tun können oder müssen; er wird sich auch nicht fragen, ob die Hilfe, insbesondere die militärische Unterstützung, jeweils zeitgerecht und der Situation angemessen erfolgte. Was gibt es Wichtigeres als Frieden und den hat er mit seiner klarsichtigen und unerschrockenen Politik schließlich erreicht.

Wenn man sich nun doch erlaubt, Fragen zu stellen und eine Bilanz zu ziehen nach einer so langen Kriegszeit, dann können wir auf der „Haben“-Seite verbuchen, dass wir endlich wieder unsere Ruhe haben und uns nicht mehr auseinander setzen müssen mit lästigen Fragen. Endlich müssen wir nicht mehr so viel unsinniges Geld in die Waffenproduktion stecken und können es sinnvoller einsetzen, in die Bundesbahn, in die Reparatur maroder Brücken und gleichermaßen maroder Schulen, in die Bildung eben. Es gibt so viele Dinge, die jetzt endlich wieder möglich sind. Schon während der Pandemie mussten wir auf so vieles verzichten. Wer jetzt noch nicht überzeugt ist, dem ist nicht zu helfen. Sahra Wagenknecht hatte schon recht, wen sie sagte, dass ohne Frieden alles nichts sei. Jetzt beginnt das Leben wieder farbig zu werden!

Von der Sonnenseite geblendet fällt es nicht leicht, sich mit der „Soll“-Seite auseinander zu setzen. Zig-tausende Menschen, Russen und Ukrainer haben in diesem Krieg ihr Leben verloren, die einen in der Hoffnung auf Freiheit und Frieden, die anderen in der Hoffnung auf Sieg. Den Sieg haben einige von ihnen erreicht, eben diejenigen, die den Krieg überlebt haben, die Freiheit werden sie vermutlich in ihrem geliebten Russland nie kennen lernen. Für die Ukrainer, die für ihr Land, ihre Freiheit und ihre Unabhängigkeit, für ihre Geschichte und für ihre kulturelle Identität gekämpft haben, ist dies alles verloren. Tausende, abertausende Tote, Verletzte, Verstümmelte, Brand Geschädigte, Vertriebene, Verschleppte, Gefolterte und Ermordete. Zerstörte Städte, zerstörtes Land, geschändete Vergangenheit, verlorene Zukunft; grenzenloses Leid, unbegreiflicher Verlust!

Es ist nicht nur Spekulation, wenn vor dem Hintergrund des Kriegsverlaufs gefolgert wird, dass das Leid nicht nur hätte minimiert werden können, sondern dass der Ukraine der vollständige Verlust von Land, Freiheit und Identität erspart geblieben wäre, wenn der Westen nicht so zögerlich und von Angst gelähmt gehandelt hätte, vorne dran unser Kanzler. Statt entschlossen zu handeln begnügte sich der Westen damit, Stärke zu zeigen. In aufwendigen Manövern zu Land und zur See gefiel er sich selbst in der vorzeigbaren Wucht seiner militärischen Möglichkeiten. Der Kriegsverlauf machte deutlich, wie inkompetent und verletzbar die russischen Streitkräfte waren. 2023 war die Ukraine zu einer Gegenoffensive bereit und entschlossen. Sie konnte nicht durchgeführt werden, weil Waffen und Munition fehlten. Der Westen verlor sich in endlosen und quälenden Debatten darüber, ob es gerechtfertigt sei, Panzer zu liefern. Die Argumentation war und ist stets die gleiche wie heute: Die militärische Unterstützung forciere das Risiko einer militärischen Eskalation und einer Ausweitung des Krieges. Die erheblich verzögerte Lieferung von Panzern, zu der man sich schließlich durchgerungen hatte, verhinderte die Rückeroberung der verlorenen Gebiete.

Seit der verbalen Ankündigung der Zeitenwende wurde immer wieder betont, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe. Immer wieder gab es Gelegenheiten, eine solch willens-starke Entschlossenheit zur Schau zu stellen und entsprechend zu handeln. Zwischendurch aber hat man den Eindruck, dass die Ukraine nicht mehr ist als ein leidiges Beiwerk in den Köpfen der Entscheider, immer sich rechtfertigend, man täte ja so viel. Es kam die Zeit des fortwährenden Beschusses von Charkiw und schon musste man mit dem schlimmsten rechnen. Kiew bat dringend um Langstrecken-Waffen, die es möglich machten, Abschussstellen auch im russischen Hinterland zu erreichen. Eine ideale Waffe wäre der Taurus auf Grund seiner Reichweite und seiner Zielgenauigkeit. Scholz blieb bei seinem anfänglichen, in gedanklicher Starre verharrenden „Nein“. Doch für die Ukraine kam es noch schlimmer. Zeitweilig verbot der Westen, Ziele auf russischem Gebiet ins Visier zu nehmen. Das aber wäre eine der Möglichkeiten gewesen, der Ukraine zu einem militärischen Erfolg zu verhelfen. Stattdessen meinte der Westen, russisches Gebiet schützen zu müssen. Nein, wir dürfen nicht erfolgreich sein, sonst wäre unser Frieden gefährdet. Der angestrebte Erfolg (Russland darf den Krieg nicht gewinnen) wurde verunmöglicht aus Angst, der Krieg könne eskalieren und wir könnten unseren Frieden verlieren, Dein Frieden haben wir; ob wir unsere Freiheit behalten, werden wir sehen. Putin wird dem Friedensfürsten ewig dankbar sein müssen.