Viele sind es und waren es, die sich mit der Gestaltung eines freien und vereinten Europas befasst und einen Plan zur Friedenssicherung entworfen haben. Viele Namen müssten erwähnt werden, wie Dante, die Franzosen Dubois und Montaigne, Erasmus oder Thomas Morus und jedes Mal spiegeln die Pläne das jeweilige Zeitgeschehen und die jeweils persönliche Gesinnung des Autors. Politische und wirtschaftliche Erwägungen bilden in der Regel den Rahmen all dieser Pläne für das Zusammenwirken und das Überwinden der jeweils bestehenden Kräfte. Das heutige Europa entstand zunächst aus rein wirtschaftlichem Kalkül und wirtschaftliche Aspekte standen neben politischen Erwägungen auch bei der weiteren Entwicklung ganz im Vordergrund. Die Europäische Union, wie wir sie heute erleben, ist ein Glücksfall innereuropäischer Verständigung nach zwei unvorstellbaren Katastrophen, die Europa bis ins Mark erschütterten. Mit Hilfe der Siegermächte begann auch in Deutschland nach und nach der demokratische Gedanke fußzufassen und heute ist die gesamte Europäische Union ein grenzüberschreitender Hort demokratischen Bewusstseins und der Maxime überzeugt gelebter Menschenrechte, ein Hort der Freiheit und des friedlichen Miteinanders.

Nun gibt es einen Grund, in diesem Zusammenhang den Herzog von Sully zu erwähnen. Er war Berater und engster Freund von Heinrich dem IV., König von Frankreich, dem ehe-maligen Hugenottenführer. Er stand ganz unter dem Eindruck der ständigen hegemonialen Zwistigkeiten zwischen Spanien und Frankreich und den religiösen Feindseligkeiten zwischen der katholischen Liga und dem französischen Protestantismus, den Hugenotten. In der Funktion, Freund und Berater des Königs zu sein, erlebte er am Königshof ganz unmittelbar die Auswirkungen des politischen Agierens, der Intrigen, des Kräftemessens, die Auswirkungen von Erfolg und Misserfolg. Er war 51 Jahre alt, als sein Herr und Gönner heimtückisch im Mai 1610 erstochen wurde. Er selbst lebte noch 31 Jahre zurückgezogen auf seinem Gut, erlebte den Beginn des dreißigjährigen Krieges und noch lange Jahre seines verlustreichen Fortgangs. Auch er hat sich in dieser Zeit über Europa Gedanken gemacht, auch er hat konkrete Pläne für ein geeintes Europa entworfen. Er spricht von einer großen freien europäischen Republik, in der Frankreich, Deutschland und Italien vereinigt sein müssen. Gleichzeitig sagt er, dass Russland in diese Vereinigung nicht aufgenommen werden dürfe. Letzteres ist wohl weniger als prophetische Weitsicht zu verstehen, denn vielmehr als eine aus der Beurteilung der damaligen politischen Verhältnisse gezogene Konsequenz. Auch, was die wirtschaftlichen Aspekte angeht, hatte der Herzog klare Vorstellungen, indem er die Handelsfreiheit ins Zentrum seiner Überlegungen stellte und die Aufhebung der Zollgrenzen innerhalb der europäischen Republik für unabdingbar hielt. Das Bemerkens-werte an seinen Überlegungen ist aber, dass er sich auch mit Fragen der Sicherheit beschäftigte. Er schreibt: „Zur Verhinderung von Angriffskriegen oder aus Intoleranz entstehenden Religionskriegen muss ein europäisches Heer von 270 000 Mann, 50 000 Reitern, 200 Kanonen und eine Flotte von 120 Schiffen aufgestellt werden.

Weniger die konkreten Angaben, die nichts anderes als ein Ausdruck des damaligen militärischen Sicherheitsbedürfnis sind, als der Umstand, dass Sicherheitsüberlegungen so konsequent in die Planung eines zukünftigen, friedfertigen Europas einbezogen wurden, ist von besonderem Interesse. Europa ist heute dabei, die Fragen der Sicherheit mit großer Aufmerksamkeit zu diskutieren, ohne allerdings belastbare Ergebnisse festzuschreiben und ohne, und, das ist das eigentliche Bedenkliche, ohne sich die existenzielle Bedrohung in seiner ganzen Tragweite bewusst zu machen. Europa ist in seiner Ganzheit bedroht, aber nicht nur aus geopolitischer Sicht; Europa ist hinsichtlich seiner innereuropäischen Freizügigkeit und demokratischen Grundordnung bedroht; noch mehr aber ist die europäische Idee der Freiheit und der Menschenrechte bedroht. Inmitten dieser Bedrohungen erscheint Europa wehrlos zu sein und dies in vielfacher Hinsicht. Am offensichtlichsten ist die Bedrohung von außen in Form eines tiefgreifenden Konfliktes zwischen zwei Systemen: auf der einen Seite ein autoritäres System mit einem im Zentrum stehenden staatlichen Machtmonopol und der Aufhebung sämtlicher persönlicher Freiheiten und Rechte; auf der anderen Seite das demokratische System mit der im Zentrum stehenden Respektierung der persönlichen Freiheits- und Gestaltungsrechte. Auf der einen Seite die Allmacht des Staates, auf der anderen die Wertschätzung des Menschen. Auf der einen Seite die Entrechtung und die Angst, auf der anderen die Freiheit und die Rechtssicherheit.

Russland und China repräsentieren das System der zentralen, dirigistischen Macht; der Westen, zusammen mit der Europäischen Union, repräsentieren das System der Freiheit. Die Ukraine liegt nun im Grenzbereich dieser Systeme. Mit großer Mehrheit hat sich ihre Bevölkerung für die Freiheit entschieden, für den Anschluss an die Europäische Union. Russland dagegen erhebt Anspruch auf die Annektierung des ganzen Landes, es spricht der Ukraine als selbständigen Staat das Existenzrecht ab. Die Ukraine soll in das russische Staatsmonopol einverleibt werden. Die ohnehin zweifelhaften Argumente, die Russland für sein Vorgehen anführt, relativieren sich angesichts der Methoden, mit denen Russland seine Ziele verfolgt. Gerade dieser Aspekt verdeutlicht die Unterschiede der beiden Systeme. Das methodische, menschenverachtende Vorgehen zur Durchsetzung der eigenen Ziele macht in besonderer Weise deutlich, wie unerlässlich und notwendig es ist, dass ein System, eine Überzeugungsgemeinschaft, eine gewachsene, freiheitsorientierte Lebensvereinigung wehr-haft sein müssen, um sich gegen Angriffe von außen verteidigen zu können. Nur der eigenen Friedensliebe zu vertrauen, ist naiv und weltfremd. Unlängst wurde ein Pateivorsitzender in einer Gesprächsrunde gefragt: „Sie plädieren für Frieden und gleichzeitig liefern sie Waffen; wie passt das zusammen?“ Anlässlich der Feierlichkeiten zum Gedenken an den D-Day 1944 sagte die dänische Ministerpräsidentin Frau Mette Frederiksen. „Mir ist bewusst, dass Freiheit und Frieden etwas kosten.“ Der Bundeskanzler und andere in der Verantwortung stehende Politiker äußerten zum Krieg Russlands gegen die Ukraine: „Die Menschen in der Ukraine verteidigen auch unsere Freiheit.“ Ist nicht diese Einsicht bereits eine Antwort auf die vermeintliche Unverträglichkeit von Frieden und Waffen? Sind wir uns im Klaren, was es bedeutet, wenn die Ukraine den Krieg verliert? Wenn es nach den Vorstellungen Russlands geht, dann gäbe es keine Ukraine mehr, dann gäbe es keine Menschen mehr, die ukrainisch sprechen, die sich auf eine eigene Geschichte, auf eine eigene Kultur beziehen könnten. Es gäbe nur noch Menschen, die ihre Identität an das russische Staatsmonopol verloren hätten und blind einem fremden Willen gehorchen müssten. Der quantitative Unterschied, ob die ganze Ukraine oder nur Teile in russische Hände fielen, ist für diejenigen Menschen, die es betrifft, schließlich unerheblich. Wer die Ansicht vertritt, dass die Menschen in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigen, und dabei nicht die Bereitschaft erkennen lässt, sich mit allen Konsequenzen auch für deren Freiheit einzusetzen, macht sich unglaubwürdig. Ganz offensichtlich spielt er mit der Wahrheit. Wenn nun aber die Freiheit verteidigt werden muss, dann hat man sich bei allen Maßnahmen, die zur Verteidigung notwendig sind, an dem Wert zu messen, den es zu verteidigen gilt, an der Freiheit! Und nicht nur ständig darauf zu lauern, was der Gegner sagt, womit er droht und uns in unserem Freiheitswillen irritieren und schwächen will. Verlässlich ist nicht die Stimme des Gegners; verlässlich muss der Wert sein, der in dieser Bedrohungslage gefährdet ist, die Freiheit!

Vielleicht ist das die Gelegenheit, darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn wir von Frieden sprechen. Wir hören und stimmen dem uneingeschränkt zu, wenn der Kanzler davon spricht, uns nicht in den Krieg hineinziehen zu lassen. Es sei das seiner Besonnenheit zu verdanken, dass das bisher vermieden werden konnte. Die Frage ist nun, ob der Umstand, dass wir uns derzeit nicht militärisch mit Russland auseinandersetzen müssen, bereits bedeutet, dass Frieden herrscht. Die Einsicht, dass durch den Angriff Russlands auch unsere Freiheit bedroht ist, lässt zumindest daran Zweifel entstehen. Ist es nicht so, dass wir das Ausmaß der Cyberattacken, die ständige Desinformation, die gezielten Fakenews völlig ignorieren, obwohl sie wirken und bereits zu einer nicht unerheblichen Verunsicherung geführt haben. Haben wir noch Vertrauen in unsere Demokratie, sind wir uns deren Werte noch bewusst? Haben wir noch Vertrauen in unsere Regierung oder ist das bereits die Wirkung, dass sie uns fremd geworden ist? Leben wir im Frieden oder in einer Wohlstandsnarkose, in der wir, während wir schlafwandeln, merken, dass der Boden ins Schwanken gerät, die Zukunft unsicher geworden ist und wir nach Sicherheiten Ausschau halten? Die Sicherheiten werden uns angeboten in Form von plausiblen Lösungen und Versprechen in begeisternder Einfachheit. Der Kern all dieser verführerischen Angebote ist die beiläufige Bedingung, dass das Alte weg muss, damit das Neue entstehen kann. Die Parole ruft nah einem neuen, starken Europa?

Sollte die Ukraine den Krieg verlieren, dann hat sich die westliche Welt mit einem völlig neuen Sachverhalt auseinander zu setzen. Russland fühlte sich bestärkt in der Überzeugung, das dem Westen überlegene System zu repräsentieren. Putin würde in seinem Ansinnen, auch weiterhin ein starker und kraftvoller Staatenlenker zu sein, Erfolge vorweisen und seiner Gefolgschaft die Alternativlosigkeit seiner Regentschaft beweisen müssen. Er fühlte sich unverzichtbar. Um das seinem Volk gegenüber immer wieder unter Beweis zu stellen, muss er die von ihm beschworene Bedrohung durch die NATO und den Westen aufrecht erhalten. Er muss der Zar sein, der sein Volk beschützt und zeigt, dass er im Inneren wie im Äußeren immer wieder Erfolge vorzuweisen hat. Die Wirtschaft läuft vollumfänglich im Kriegsmodus und ist auf jedes denkbare militärische Unternehmen vorbereitet. Mit den westlichen Reaktionsmöglichkeiten hat er ausreichende Erfahrungen. Aus seiner Sicht hat er nur Erfolge vorzuweisen, die unter den Augen des Westens erzielt wurden: In Tschetschenien hat er für „Ruhe“ gesorgt, in Syrien konnte er sich durchsetzen, die Krim konnte er annektieren und nun die Ukraine. In den nördlichen afrikanischen Staaten (so in der zentralafrikanischen Republik) konnte er seinen Einfluss geltend machen; die Franzosen haben sich zurückgezogen, die Deutschen halten mit einer Restmannschaft symbolisch die Stellung. Jede Reaktion des Westens, die sich jeweils in einer mutlosen Empörung erschöpfte, war bisher eher geeignet, die Russen in ihrem Unternehmungsdrang zu ermuntern als sich ihnen zu widersetzen. In der Abfolge dieser Ereignisse war stets Putin der Ton-Angebende, derjenige, der die Spielregeln diktierte. Im Westen herrschten Ängstlichkeit und zögerliches Abwarten. Zu bedauern ist, dass versucht wird, dieses wortreiche Handlungsdefizit mit dem Begriff der Besonnenheit positiv zu bemänteln. Es ist nichts anderes als Schwäche und das angesichts des Wertvollsten, was wir zu verteidigen haben: die Freiheit!

Europa muss aufwachen und erkennen, dass es wehrhaft und wehrfähig werden muss. Europa darf sich nicht im Glauben an einen allgemeinen Friedenswillen bzw. an eine scheinbar von allen geteilte Friedensbereitschaft zurücklehnen und sich von einem Wohl-stand beirren lassen, der blind und selbstgefällig dem Konsum erlegen ist. Auch Amerika kann nicht der Garant unserer Freiheit sein. Und auch dies: Sollten wir überzeugt sein von den Werten, die uns ein Leben in Freiheit, Frieden und Sicherheit ermöglichen, dann resultiert daraus eine Verantwortung der Welt gegenüber. Nicht, dass wir die Menschen in der Welt missionarisch zu belehren hätten; Das Gegenteil ist der Fall: Mit diesen Werten verbindet sich die Aufgabe, diese Werte nicht nur zu vertreten, sondern sie auch überzeugt und glaubhaft zu leben; man muss der Welt vermitteln, dass das System der Freiheit dem Menschen ermöglicht, seinen eigenen Lebensentwurf zu realisieren, Respekt und Gerechtig-keit zu erfahren und mit seinen Fähigkeiten am Gestaltungsprozess der Gesellschaft teilzuhaben. Die Bedeutung der demokratischen Werte steigt mit der Bereitschaft, sie zu verteidigen.

Wir müssen aber auch eine zunehmende Bedrohung der demokratischen Werte von innen her feststellen. Es sind dunkle Wolken, die sich vor das grenzenlose und befreiende Blau des Himmels schieben. Die Wege, die gewohnt frei und unbeschwert durch die Lande ziehen, werden unter lautem Getöse und aufreizenden Parolen ersetzt durch gedankliche Einbahnstraßen, eintönig, betoniert, ungnädig, geschichtsvergessen. Mit verführerischem Vokabular, dem hohen Anspruch der Demokratie entlehnt, unterwandern sie diese in zerstörerischer Absicht. Erst versuchen sie, die Menschen für die nationale Ausschließlichkeit und die völkische Überlegenheit zu gewinnen, während sie bereits liebäugeln mit den Methoden autokratischer Durchsetzungsmöglichkeiten. Am Ende steht dann das andere System: das staatliche, lebensfeindliche Machtmonopol. Der Weg dorthin ist leicht und unbedacht; doch dann, der Weg zurück, ist schmerzlich.

Stell‘ dir vor, du wachst am Morgen auf und überall ist nur noch Staat!

Europa muss zum Fanal der Freiheit in der Welt werden! Wir haben etwas zu verteidigen. Noch bevor wir aber von dieser Notwendigkeit überzeugt sein können, muss uns der Wert bewusst werden, den es zu verteidigen gilt. Zu verteidigen sind nicht die Ruhe, nicht der Stillstand, nicht das Weiter so, sondern der immer wieder neu zu gehende Weg der Freiheit! Europa ist eine Errungenschaft der früheren und der jüngsten Vergangenheit und Europa ist immer wieder eine Chance für Heute und für die Zukunft! 

Zugrunde liegende Literatur:
Timothy Garton Ash „Europa“; Hansen Verlag, München 2023
Heinrich August Winkler „Die Geschichte des Westens“; C.H.Beck, München 2016
Egon Friedell „Kulturgeschichte der Neuzeit“; C.H.Beck, München 1965
Carl J. Burckhardt „Gestalten und Mächte“ Manesse Verlag, Zürich 1961