Während die Ukraine auf See militärisch durchaus Erfolge vorzuweisen hat, kommt sie an Land immer mehr an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Es fehlen Soldaten, es fehlt Munition, es fehlen die Möglichkeiten, waffentechnisch strategisch zu agieren. An der Front hat sie einen mehrere Kilometer breiten verminten Korridor vor sich, der ihre Handlungsmöglichkeiten erheblich einschränkt. Dahinter das Waffenarsenal der Russen, Artillerie, Panzer, Haubitzen mit, so muss es den ukrainischen Soldaten vorkommen, mit nahezu unbegrenzten Nachschubmöglichkeiten. Um die Nachschubwege zu zerstören, fehlen ihnen die erforderlichen wirksamen Distanzwaffen. Vor Ort, in den Schützengräben, reiben sich die Soldaten auf; ein immer spürbarer Mangel an Munition, hindert sie, spontan zu reagieren, sie müssen kalkulieren, den Mangel verwalten. Die Menge der von Europa versprochenen Munition kann nicht geliefert werden, was von einzelnen Staaten als schicksalhaft hingenommen wird, zumindest ist nicht zu erkennen, dass Einsichten zu vermehrten Anstrengungen führen würden. Allein die Tschechische Republik hat unlängst die Initiative ergriffen und will versuchen, 1 Mio. Patronen Artillerie-Munition durch den Ankauf aus aller Welt zu erwerben und der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Man atmet auf und sagt sich: „Endlich ist einer bereit zu handeln“. Nach Frankreich schließt sich auch Deutschland dieser Idee an. Mit Erleichterung nimmt man diese Entscheidung zur Kenntnis, hat sich doch Deutschland in Sachen Waffenlieferung bisher nicht durch entschlossenes Handeln hervorgetan. Man begnügte sich mit der Feststellung, Deutschland sei doch nach den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. Diese Aussage ist halb wahr und wenn man an die Wirkung denkt, die mit dieser Feststellung verfolgt wird, dann ist sie irreführend. Richtig ist diese Feststellung, wenn man den absoluten Geldwert zugrunde legt. Auf der Basis des Bruttoinlandproduktes rangiert Deutschland an 10. Stelle. Nimmt man den gesamten Vermögenswert als Vergleich, dann nimmt Deutschland die 14. Stelle ein. Auf diese Art der reinwaschenden Selbstrechtfertigung wird noch einzugehen sein. Die Situation in den Vereinigten Staaten ist bekannt; Die Republikaner blockieren jede Form der Ukrainehilfe; ideologisch verblendet folgen sie ihrem Guru – wie es Lemminge tun, meinungslos, mit verlorenem Blick auf die Wirklichkeit. So also ist die Situation: Amerika kann nicht, Europa schafft es nicht, Deutschland zögert ängstlich, der Kanzler will nicht, während die Ukraine ausblutend die Freiheit und die demokratischen Werte verteidigt.
Die militärische Situation ist beschrieben. Die Nachschubwege der Russen sind bekannt ebenso wie ihre zentralen Leit- und Kommandostände, ihre Munitions- und Treibstofflager. Dazu gehört nicht zuletzt die völkerrechtswidrige Brücke von Kersch zur Halbinsel Krim, ein für die Russen unverzichtbarer Nachschubweg für Marine und landgestützte Waffensysteme. Der Ukraine wäre geholfen, wenn sie über Möglichkeiten verfügen würde, diese entfernten Ziele zu erreichen, um sich so der materiellen Übermacht zu erwehren. Ein weiterer, für die Einschätzung der militärischen Lage wichtiger Gesichtspunkt ist die unangefochtene Luftüberlegenheit der Russen. Die Ukraine mit kompetenter Luftabwehr zu unterstützen ist demzufolge von vorrangiger Bedeutung.
Um den Marschflugkörper Taurus wird seit geraumer Zeit heftig gestritten. Was sind seine Fähigkeiten, dass so kontrovers über seinen Einsatz gestritten werden kann? Es sind seine großen Entfernungen, die er überbrücken kann, seine Zielgenauigkeit und seine enorme Sprengkraft. Er vermag mehrere Betonschichte zu durchschlagen, bevor seine eigentliche Detonation erfolgt. So gelingt es ihm, bunkergeschützte Anlagen und gepanzerte Projekte zu zerstören. Er fliegt unterhalb der Radarerkennung, seine Zielgenauigkeit wird durch die Ausstattung mit umfangreichen geospezifischen Datensätzen erreicht, was bedeutet, dass er vor einem Einsatz entsprechend programmiert werden muss. Bedenkt man die derzeitige militärische Lage, dann böte Taurus die besten Voraussetzungen, entscheidend Einfluss zu nehmen, indem mit ihm der ständige Nachschub unterbunden werden könnte. Die Situation verlangt gerade nach dieser Möglichkeit.
Nun hat der Bundeskanzler durch sein zögerliches Verhalten ohnehin schon den Kriegsverlauf zu Ungunsten der Ukraine beeinflusst, indem er zu lange die Lieferung von Panzern hintertrieben hat. Die Russen nutzten diese Zeit, große Teile des Ostens der Ukraine entlang der Frontlinie zu verminen. Nun stellt sich Scholz auch dieses Mal entschieden gegen eine Lieferung von Taurus („Ich bin der Kanzler und deshalb gilt das“). Sein anfängliches Argument, deutsche Soldaten müssten zur Programmierung in der Ukraine tätig werden, wurde inzwischen widerlegt, sodass er auf ein vermeintlich zugkräftigeres Argument ausweichen musste: „Deutschland darf nicht in den Krieg hineingezogen werden.“ „Es soll Putin nicht provoziert werden.“ Es ist die Angst, die jedes analytische Denkvermögen überlagert. Diese Angst ist Teil seiner Biographie und es ist die Angst, die, um ihr zu entgehen, zur Un- und Halbwahrheit verleitet. Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, ob er mit dieser Veranlagung und Haltung überhaupt eine Führungsposition übernehmen kann. Warum gelingt es ihm so wenig, mit seiner Regierungstätigkeit Vertrauen entstehen zu lassen? Warum stößt er als Kanzler auf derart breiten Widerstand? Versucht man, sein Denken nachzuvollziehen, dann stößt man unweigerlich auf gravierende Denkfehler, die sich allesamt auf ein ängstliches Problemvermeidungs-Verhalten zurückführen lassen. Wortreich stellt er sich den Problemen, denen er sich aber dann tatenlos entzieht. „Zeitenwende!“ Er sieht die Notwendigkeit einer veränderten Sicherheitspolitik. „Sondervermögen!“ Und er verspricht: ab jetzt regelmäßig 2% für den Verteidigungshaushalt! Aber schon im folgenden Jahr wird gemauschelt; die 2% werden nur unter Zuhilfenahme des Sondervermögens erreicht. „Groß war das Wort, weil es die Tat nicht war!“ Er wiederholt sein „nein“ zu Taurus und begründet es nun mit dem Argument, er will, was die Auswahl der angepeilten Ziele angeht, die Kontrolle behalten. Der Krieg dürfe nicht auf russisches Staatsgebiet ausgeweitet werden. Ansonsten bestünde die Gefahr einer Eskalation. Was ist das für eine seltsame Logik? Russland greift die Ukraine an, mit dem Ziel, sie vollständig auszulöschen; die Ukraine aber darf sich nur innerhalb der eigenen Grenzen wehren? Scholz blickt ängstlich bei jeder Entscheidung auf Putin, nicht aber auf die Sache selbst. Doch auch hier die großen Worte: „Russland darf den Krieg nicht gewinnen!“ In den letzten Tagen wurde er gefragt, was passieren würde, wenn die Vereinigten Staaten die Ukraine nicht mehr unterstützten. Seine beklemmende Antwort war: „Dann wäre die Ukraine verloren.“ Er sagte nicht: „Europa müsste sich dann gewaltig anstrengen:“ oder dergleichen. Gleichzeitig aber schafft er es zu sagen: „Wir stehen fest an der Seite der Ukraine!“ „Angst frisst Seele auf“. Mit der Seele schwindet bei ihm die Fähigkeit, einem Freund zu vertrauen, dem er Hilfe versprochen hat. Der Unterschied zwischen Putin und Scholz ist, dass Putin sagt, was er tut, während Scholz entweder sagt, was er nicht tut oder aber sagt, ohne etwas zu tun. Die Art, wie Putin etwas tut, ist nicht kalkulierbar, während das Nichtstun von Herrn Scholz für jedermann kalkulierbar ist. „Keine Soldaten…, kein Taurus!“ Für diese Klarheit wird ihm Russland danken.
Tag für Tag kann der Bundeskanzler sehen, was es bedeutet, seine Freiheit verteidigen zu müssen; aber mehr noch, Russland hat wiederholt erklärt, dass die Ukraine kein Recht hätte zu existieren. Demzufolge geht es um das Überleben, um die Identität eines ganzen Volkes. Zugleich ist erkennbar, dass es ein Kampf zwischen zwei Systemen ist, die unterschiedliche Vorstellungen vom Wert eines Menschen haben. Russland bietet immer eindrucksvolleres Anschauungsmaterial von seinem Verständnis vom Wert eines Menschen. Ist Angst das rechte Mittel, um dieser Bedrohung zu begegnen? Hindert die Angst daran, den Wert der Freiheit zu erkennen? Der Blick, als Ausgangspunkt des Handelns, ist auf den Mann gerichtet, der die Freiheit bedroht, nicht auf die Freiheit, die er bedroht und wert ist, verteidigt zu werden. Der Blick auf den Mann, der die Freiheit bedroht, macht Angst und die Angst lähmt; der Blick auf die bedrohte Freiheit und der Blick auf die in Not geratenen Freunde fordern auf, zu handeln! Das heißt, nicht vor dem Mann zittern, der alle Regeln missachtet, der bereit ist, unsere Freunde zu töten, sondern mutig sein und sich diesem Menschenfeind entgegenstellen. Das eigene Handeln sollte sich frei machen von den niedrigen Beweggründen des Gegners; es muss sich allein konzentrieren auf die Wiederherstellung moralischer Gebotenheit. Diese Ausrichtung des Handelns muss klar, eindeutig und verlässlich sein und nicht im Geringsten den Anschein erwecken, dass mit dem „nein“ zu Taurus insgeheim andere Ziele verfolgt werden. Der Gedanke etwa, mit dem konsequenten Festhalten an der Weigerung, den Taurus zu liefern, der Volksmeinung entgegenzukommen und auf diese Weise, zukünftige Wahlen im Auge, für Wählerstimmen zu sorgen. Es ist ja offensichtlich, dass die Bevölkerung mehrheitlich die Lieferung des Taurus ablehnt.
Bedenkt man, dass es bei einer möglichen Entscheidung für die Lieferung des Taurus einzig um den Versuch einer erfolgreichen Abwehr eines Aggressors geht, dann mutet ein Umfrageergebnis von 61% gegen eine Lieferung schon sehr befremdlich an. Wie wird der Krieg Russlands gegen die Ukraine in der Bevölkerung wahrgenommen; wird er als eine Gefährdung der eigenen Sicherheit, als eine Bedrohung der Freiheit empfunden? Was die ukrainische Bevölkerung angeht, ist Deutschland durchaus eine große Hilfsbereitschaft zu attestieren, doch wehrt man sich entschieden gegen jeden Gedanken, zur Kriegspartei zu werden. Das Leben, so, wie es derzeit ist, angenehm, bequem, vom Wohlstand getragen, berechenbar und frei darf nicht durch leichtfertige Entscheidungen gefährdet werden. So wird die Tatenlosigkeit des Bundeskanzlers später einmal, wenn Deutschland eine Kriegsbeteiligung erspart blieb, gefeiert werden und er als der große Garant für Friede und Freiheit gelten.
Putin hat dem Westen den Krieg erklärt. Vor allem am Anfang war die Empörung groß und mit Waffenlieferungen half man, soweit es die eigenen Reserven zuließ. In allen Bereichen wurden Schwächen sichtbar, entscheidend aber ist die sich ausbreitende Gewöhnung an den Zustand des Nicht-Bedroht, des Nicht Betroffen Seins. Man verfügte ja über die Freiheit des Tuns und Lassens und weit entfernt ist das Leid, der Schmerz und das Sterben. So unbeliebt der Kanzler auch ist, schließlich ist er es, der uns vor jeder Beteiligung am Krieg bewahrt hat. Dass die ukrainischen Menschen zu guter Letzt den Preis dieser politischen Haltung des Zögerns und des Sich Verweigerns zu bezahlen haben, diese Bilanz muss man sich ja nicht ohne Not immer wieder vor Augen führen.
Sind wir wirklich bereit und willens, unsere Freiheit zu verteidigen; wenn wir auf die Ukraine blicken, dann sehen wir, dass dies eine große Entschiedenheit und eine selbstlose Opferbereitschaft notwendig macht. Wissen wir in unserer wohltemperierten Wohlstandsgesellschaft überhaupt noch, was Freiheit ist? Erlaubt die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns vom Alltag in Beschlag nehmen lassen, überhaupt noch, eine andere Realität zu denken und zu erfühlen, wenn wir etwa an Syrien, an den Sudan, den Iran, an Russland, Belarus oder China denken: Überall Staat, Angst, Zwänge, Verhaftungen, Folter, Mord. Die Selbstverständlichkeit unserer Lebensweise löst alle diese furchterregenden Gedanken in unwirkliche, weit entfernte Bilder auf; sie sind präsent, aber sie berühren nicht. Scholz kann nicht der große Freiheitskämpfer sein, weil er kein Kämpfer ist. Weil er sich von Putin dominieren lässt, wird er zur Gefahr, weil er bereit ist, die Ukraine zu opfern, des eigenen Vorteils, des eigenen Friedens wegen.
Es ist Krieg: Politische Betrachtungen zu Putin und der Ukraine
Der mörderische Krieg Putins gegen die Ukraine trifft Europa unvorbereitet in einer Zeit sicher geglaubten Friedens.
Ein Buch von Prof. Dr. Johannes Horn
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